Schaffnerlos

Infrastruktur, wie zum Beispiel öffentliche Verkehrsmittel, ist für den amerikanischen Durchschnittswähler ein überflüssiges Relikt aus früheren Zeiten, für das jemand anderer vor langer Zeit unnötigerweise Geld ausgegeben hat und deren Erhaltung möglichst keine Steuergelder kosten darf.

Folglich werden Strassen, Brücken, Eisenbahnen usw. gebaut und dann dem Verfall überlassen. Und weil eine sorgfältige Planung und Bauausführung auch Geld kosten, und Baufirmen gerne viel verdienen und wenig leisten, beginnt der Verfall meist noch während der Bauzeit. Nicht einmal in Gemeinden, wo die überwiegende Mehrzahl der Einwohner des Lesens und Schreibens mächtig ist, können es sich Kommunalpolitiker politisch leisten, gegen diese Grundhaltung anzukämpfen.

Wenn einmal wo eine Brücke einstürzt (z.B. Minneapolis 2007) oder eine Tunneldecke herabfällt (Boston 2006), gibt’s ein bisserl Presse und ein paar politische Scheinaktionen. Wirklich verbessert wird der Zustand der Infrastruktur aber nicht.

Und so kommt es, dass öffentliche Verkehrsmittel noch genauso aussehen und betrieben werden wie vor 40 oder 50 Jahren. Für meinem täglichen Weg mit der Schnellbahn (‚commuter rail‘) in die Arbeit nach Boston kaufe ich mir daher eine Fahrkarte mit 12 Streifen, die von einem menschlichen Schaffner entwertet werden – mit einer klassischen Lochzange. Ein Zug hat zwischen 6 und 8 Waggons, von denen jeweils zwei von einem Schaffner kontrolliert werden. Jeder Schaffner hat sein eigenes Symbol, das er in die Fahrkarte stanzt.

Interessanterweise kennzeichnet die Schaffner ein ganz eigentümlicher Grad von Individualität, und die einzelnen Typen seien im Folgenden beschrieben.

Die Schaffnertypen

Die Strenge Die Strenge gibt sich keine Blöße und erlaubt keine Gratisfahrten. Sie ist derzeit informiert, wer wo eingestiegen ist, und spürt jeden Neuzusteiger unerbittlich auf. Ein voller Waggon kann sie nicht abschrecken. Sie zwängt sich auch durch die dichtesten Menschenmassen und läßt niemanden aussteigen, bevor die Karte nicht korrekt entwertet ist.

Der Genaue Der genaue Schaffner herrscht über die letzen beiden Wagen im 8h45 Zug von Providence nach Boston. Seine Gesichtshaut hat rote Flecken, vermutlich vom Stress, mit so vielen Fahrgästen im selben Zug fahren zu müssen. Er lächelt nie. Er erlaubt es nicht, dass ein Fahrgast vorzeitig die Tür zur Plattform öffnet, wenn der Zug in die Station einfährt – das darf nur er selbst. Sollte das jemand nicht wissen, wird er erbarmungslos angeschnauzt. Klar, daß dem Genauen noch nie ein Passagier durch die Lappen gegangen ist.

Der Schlampige Der Schlampige nimmt seinen Job recht locker. Wenn Leute auf den Gängen stehen, läßt er das Kontrollieren lieber sein. Manchmal steht er auch lieber auf einer der Plattformen und tratscht mit einem Kollegen.

Der Sehschwache Einer der Schaffer auf dem 8h30 Zug geht rasch durch den Waggon, nimmt die Karte ohne hinzusehen in die Hand, stanzt einen bereits entwerteten Streifen nochmals, und gibt mir die Karte im Vorbeigehen wieder zurück. Hat er eine Sehschwäche und will sich keine Blöße geben, um seinen Job behalten zu können? Worum wohl sonst nimmt er sich nicht die Zeit, ordentlich hinzusehen und die Karte korrekt zu Lochen? Der Sehschwache hat mir bisher das meiste Geld gespart, abgesehen vielleicht vom Abwesenden.

Der Abwesende Manchmal ist überhaupt kein Schaffner zu sehen. Das kann natürlich verschiedene Ursachen haben, über die man nur spekulieren kann. Vielleicht ist er krank und es gab keinen Ersatz? Oder er ist zu faul zum Kontrollieren und versteckt sich irgendwo im Zug?

Im Durchschnitt wird die Karte in 20% bis 30% der Fahrten nicht entwertet, und ich brauche nie mehr als zwei 12-Streifenkarten im Monat (zu $57 das Stück). Man kann beobachten, wie manche Mitreisende versuchen, dieses Verhältnis noch weiter zu ihren Gunsten zu verbessern, indem sie den Waggon wechseln und denken, damit den Schaffner zu verwirren, ihm ausweichen, oder ihn ignorieren, damit er denkt, die Karte wäre schon entwertet. Eine Monatskarte kostet so viel wie drei Streifenkarten. Würden die Bostoner Verkehrsbetriebe einen automatischen Fahrkartenentwerter installieren und die Karten gelegentlich auf korrektes Entwerten kontrollieren, unter Androhung einer Verwaltungsstrafe, könnte der Umsatz um 30% gesteigert, die Verluste verringert, und vielleicht Geld in die Erneuerung der Infrastruktur investiert werden. Aber daran ist ja niemand interessiert ….

Angewidert, Euer Onkel